Dr. Anna-Lena Hollo: „Unsere Aufgabe ist es, den wissenschaftlichen Nachwuchs im Bereich des Sozialrechts zusammenzubringen.“
Die „Erste Junge Tagung Sozialrecht“ sollte den Startpunkt dafür setzen, den wissenschaftlichen Nachwuchs im Bereich des Sozialrechts zusammenzubringen. Im deutschsprachigen Raum besteht zudem ein Mangel an wissenschaftlichem Nachwuchs im Sozialrecht. Die vorhandene Forschung von DoktorandInnen und HabilitandInnen an den Universitäten ist außerdem wenig vernetzt. Daran wollten wir mit unserer Initiative etwas ändern und eine bessere Vernetzung unter den sozialrechtlich aktiven und interessierten DoktorandInnen und HabilitandInnen anstoßen und fördern. Wir wünschen uns, dass wir damit einen Beitrag leisten, etwas an dem Umstand zu ändern, dass sozialrechtliche Forschung sowohl im Bürgerlichen Recht (häufig von Arbeits- und Versicherungsrechtlern) als auch im Öffentlichen Recht immer nur als „Anhängsel“ und nebenbei als kleiner und eher unbedeutender Teil des besonderen Verwaltungsrechts betrieben wird. Mit der Jungen Tagung Sozialrecht möchten wir eine Plattform schaffen, auf der der wissenschaftliche Austausch gefördert und die Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen intensiviert wird.
Herr Dr. Deister, können Sie die Themen der Tagung kurz umreißen?
Dr. Sören Deister: Sehr gerne. Am ersten Tag stand das Recht der Gesetzlichen Krankenversicherung im Mittelpunkt. Dabei ging es einerseits um den Umgang mit Innovationen, die durch den medizinischen Fortschritt ermöglicht werden und deren Integration in das bestehende Rechtssystem der GKV, konkret um Exoskelette und Sprachcomputer als Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich. Ferner um die grundlegende Frage, welche Behandlungsansprüche Personen haben, die gegenwärtig noch nicht krank sind, bei denen aber zukünftig mit einer bereits jetzt abschätzbaren Wahrscheinlichkeit eine Krankheit ausbrechen könnte. Anderseits ging es um praxisrelevante Fragen mit grundlegender verfassungsrechtlicher Bedeutung wie die Rabatte für pharmazeutische Unternehmen und die demokratische Legitimation des Medizinischen Dienstes.
Zu den Personen |
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Frage an Herrn Dr. Daum: Sie hatten zur Vorbereitung der Tagung eine Aktion „Call for Papers“ gestartet, um Referenten zu gewinnen. Welche Zielgruppe hatten Sie dabei vor Augen?
Dr. Jan Alexander Daum: Adressaten unseres Aufrufs waren alle Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler im deutschsprachigen Raum, die sich mit einem sozialrechtlichen Thema befassen. Das betrifft in erster Linie DoktorandInnen und HabilitandInnen an Universitäten und Fachhochschulen, wobei diese nicht zwingend an sozialrechtlichen Lehrstühlen beschäftigt sein mussten, sondern vielfach auch an allgemeinen öffentlich-rechtlichen oder arbeitsrechtlichen Instituten arbeiten. Genau um diese Vernetzung ging es uns ja. Besonders gefreut haben wir uns, dass unserem Aufruf auch mehrere österreichische Kolleginnen und Kollegen gefolgt sind und uns Dr. Martin Greifeneder von der Universität Linz einen rechtsvergleichenden Einblick in die sozialrechtlichen Streitigkeiten vor österreichischen Gerichten gegeben hat.
Dr. Anna-Lena Hollo: Das Sozialrecht hat seit jeher den Ruf, nicht besonders „sexy“ zu sein. Es heißt zum einen, dass sich damit kein Geld verdienen ließe, das Sozialrecht eine „brotlose Kunst“ sei und man als SozialrechtlerIn immer „am Hungertuch nagen“ würde.
Zum anderen bestehen Berührungsängste durch den vielfach vertretenen Glauben, dass man als SozialrechtlerIn immer nur mit dem Elend der Menschen zu tun hätte und es dadurch ein sehr tristes Rechtsgebiet sei. Alles beides stimmt natürlich nicht.
Ganz entscheidend kommt noch hinzu, dass das Sozialrecht im Studium nicht zum Pflichtfachstoff gehört. Wenn man sich nicht für einen sozialrechtlich geprägten Schwerpunkt entscheidet (den es, wohlgemerkt, nicht an allen Universitäten gibt), ist es die Regel, dass man bis zum Abschluss der Zweiten Juristischen Prüfung rein gar nichts vom Sozialrecht gehört geschweige denn etwas damit zu tun gehabt hat – außer ein Examensklausurenersteller ist besonders gemein und stellt im Verwaltungsrecht eine sozialrechtliche Klausur, um die Prüflinge mit einem unbekannten Rechtsgebiet und/oder einer unbekannten Gesetzesnorm zu ärgern. Angesichts der fehlenden Berührungspunkte in der Ausbildung fremdeln viele Studierende und auch fertige JuristInnen mit diesem spannenden Bereich.
Warum, Herr Dr. Deister, findet das Sozialrecht aus Ihrer Sicht an den Universitäten keine ausreichende Beachtung?
Dr. Sören Deister: Rein quantitativ ist das Sozialrecht gar nicht so schlecht vertreten, wie man meinen könnte. Tatsächlich bieten 32 der 43 juristischen Fakultäten in Deutschland Schwerpunktbereiche mit sozialrechtlichen Bezügen an. Allerdings wird das Sozialrecht oft nur als Anhängsel anderer Bereiche wie des Arbeits- oder neuerdings des Gesundheitsrechts eingestuft. Das muss nicht schlecht sein, führt aber dazu, dass das Sozialrecht oft nicht in dem der Praxisrelevanz dieses Gebiets angemessenen Umfang behandelt wird. Auch die dogmatischen Besonderheiten dieses Rechtsgebiets – das ja ganz grundlegend anders funktioniert als das Arbeitsrecht – gehen so verloren. Dieser ungünstige Zustand dürfte eine Vielzahl von Ursachen haben. Ein relevanter Aspekt ist sicherlich, wie bereits von Anna-Lena Hollo ausgeführt, dass das Sozialrecht kein Examenspflichtstoff ist. Außerdem ist es, das muss man schlicht anerkennen, ein kompliziertes und relativ detailversessenes Rechtsgebiet, das man sich nicht ohne Mühe nebenbei erschließen kann. Aber es wird wohl auch zu wenig Lobbyarbeit für den Erhalt oder die Errichtung sozialrechtlicher Lehrstühle betrieben. Das wird deutlich, wenn man dieses Rechtsgebiet mit dem strukturell mit ähnlichen Problemen konfrontierten Steuerrecht vergleicht. Das ist schade, da es im Sozialrecht ja diverse sehr einflussreiche Verbände gibt. Vielleicht ist hier auch die Politik mit Förderinitiativen gefordert, wie es sie ja beispielsweise durch das BMAS schon gibt.
Kommen wir zur Resonanz der Tagung. Herr Dr. Daum, sind Sie damit zufrieden?
Dr. Jan Alexander Daum: Es haben sich mehr als 50 Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler zu unserer Tagung angemeldet. Hält man sich vor Augen, dass nur gut 20 Lehrstühle in Deutschland das Sozialrecht überhaupt im Namen tragen und viele von ihnen überhaupt keinen Nachwuchs im Sozialrecht ausbilden, ist das eine sehr zufriedenstellende Resonanz. Viele erfahrene Sozialrechtler haben uns gefragt, woher die vielen jungen Leute kommen. Das ist ein schöner Erfolg, der hoffentlich zu einem besseren Image des Sozialrechts an den Universitäten beitragen kann. Denn natürlich wird ein Rechtsgebiet nicht nur durch spannende juristische Fragestellungen und seine gesellschaftliche Relevanz attraktiv, sondern auch durch eine lebendige Community, in der man sich austauschen, gegenseitig unterstützen und einfach auch mal miteinander feiern kann.
Dr. Anna-Lena Hollo: Zunächst ist als „Tagungsband“ ein Sonderheft der NZS geplant, in dem die ReferentInnen, die sich vorab auf Abfrage dafür interessiert und bereit erklärt haben, ihre Vorträge veröffentlichen können. Einleitend wird es in dem Sonderheft auch einen Tagungsbericht geben, den wir verfassen werden. Wir sind außerdem bereits dabei, ein neues Team für die Organisation der Zweiten Jungen Tagung Sozialrecht zu konstituieren – hierfür wird, wie für AssistenInnen-Tagungen üblich, der Staffelstab weitergegeben an ein neues Organisationsteam. Wir stehen mit einigen Interessierten bereits im Gespräch und werden mit ihnen und den Verbänden, die uns gefördert und unterstützt haben, demnächst eine gemeinsame Videokonferenz veranstalten, um die stattgefundene Auftaktveranstaltung Revue passieren zu lassen und die Organisation der Zweiten Jungen Tagung Sozialrecht zu besprechen und anzustoßen. Es soll weitergehen und dafür möchten wir den Schwung und die Euphorie aus der ersten Tagung mitnehmen.
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Ihr Fazit und Ihr Ausblick, Herr Dr. Deister: Wird die Bedeutung des Sozialrechts weiter zunehmen?
Und welchen Einfluss, Herr Dr. Daum, haben technologische und medizinische Fortschritte auf diesen Rechtsbereich?
Dr. Jan Alexander Daum: Bewegt sich die Gesellschaft, bewegt sich das Sozialrecht. Das ist so. Dabei stellen sich viele rechtliche und ethische Fragen, auf die Juristinnen und Juristen, die Politik, aber auch die Gesellschaft als Ganzes in den kommenden Jahren Antworten finden müssen. Nehmen wir den medizinischen Fortschritt, den Sie angesprochen haben: Eine einfachere und genauere Diagnostik führt dazu, dass Kranke sehr viel früher und individueller behandelt werden können. Über das Thema „Risiko als Krankheit“, das der Vortrag von Frau Dr. Wiese auf unserer Tagung beleuchtete, hatte Herr Dr. Deister ja bereits berichtet.
Vielen Dank für das Interview an alle und weiterhin viel Erfolg.
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